Sonntag, 7. November 2010

Erinnerungen

Thüringen, 1976. Ein kleiner Junge geht mit seiner Großmutter eine kopfsteinpflasterholprige Straße entlang. Gerade waren sie im „Backs“, so die lokaldialektische Bezeichnung der ortsansässigen kleinen Bäckerei, um dem Jungen ein noch knusprig warmes Brötchen zu kaufen, frisch aus dem rußgeschwärzten Backofen. Bald darauf wird der alte Bäcker seinen Dienst quittieren, und ein neuer den seinen antreten. Zum alten Bäcker hatten die Dorfbewohner noch ihre eigenen, frisch belegten Kuchenbleche geschleppt, um sie (in Ermangelung eines eigenen leistungsfähigen Backofens) von ihm fertig backen zu lassen. Der neue Bäcker wir dies nicht mehr tun.

Der Junge, er ist zu diesem Zeitpunkt 4 Jahre alt, und seine Oma sind auf dem Weg zur „Kneipe“, der einzigen Gaststätte des Dorfes. Dort verdient die Frau einen Teil ihres Lebensunterhalts als Putzfrau. Heute würde man ihren Job wohl als „Facility Management“ verklären, 1976 wäre niemand auf eine derart hirnrissige Idee gekommen. Auch, weil die Frau ihren Aufgaben derart fleißig und mit der ihr eigenen resoluten Würde nachgeht, daß niemand auch nur auf die Idee kommt, darin etwas Minderwertiges zu sehen.

Der Junge wird also auf der Bühne des ihm riesig erscheinenden Tanzsaales sitzen, hingebungsvoll an einem „Doppel-Caramel“, der DDR-Malzbier-Variante, nuckeln, und der Oma dabei zuschauen, wie sie den uralten, knarzenden Parkettboden bearbeitet. Der unangenehme Geruch kalten Rauches, der bleiern in dem hohen Raum hängt, wird verdrängt von dem unverwechselbaren, leicht betörenden Geruch des Bohnerwachses. Der Junge ist glücklich, denn er muß nicht wie andere Altersgenossen den Nachmittag im Kindergarten verbringen. Die Oma hat ihn noch vor dem gewöhnlich recht deftigen und fetten Mittagessen abgeholt, so wie jeden Tag. Nicht, daß ihm Omas Essen immer schmeckt, der Junge ist recht wählerisch, andere nennen es mäkelig. Manchmal kann er mit seinem Gejammer ihr Herz erweichen, und sie wird ihm zum Beispiel die mit Speckgrieben und Zwiebelstücken gespickte Tomatensoße durch ein Sieb kratzen. Jahre später wird er seine Tomatensoße nach ihrem Rezept kochen, aber 1976 ahnt er davon noch nichts.

Manchmal jedoch wird sie hart bleiben, und der Junge wird eine kleine Ewigkeit lang z.B. vor einem Teller erkaltender Graupensuppe sitzen, bis sich auf ihr eine Haut bildet, was nicht unbedingt zum Appetit des Jungen beiträgt.

Trotzdem ist er froh, nicht im Kindergarten sein zu müssen. Das Essen dort schmeckt ihm nicht, die Kinder sind ihm manchmal zu wild, und es gibt die Frau Schäfer. Frau Schäfer, eine verbiesterte alte Jungfer, rutscht bisweilen „die Hand aus“, was sie mehr als einmal in ernsten Konflikt mit Eltern bringt. Da ist man sich auch schon 1976 auf dem Dorf einig: Geschlagen werden Kinder, wenn überhaupt, nur zuhause.

Zurück zu dem Jungen, dessen kindlicher Kosmos im Wesentlichen aus dem Haus seiner Oma besteht. Vor dem Haus fließt die Hachel, ein lauschiges Bächlein, das einmal zur Schneeschmelze zu einem reißenden Fluß anschwoll und deswegen Jahre später in ein übergroßes, häßliches Betonbett gesperrt wurde. Der Bach ergießt sich in die Wipper, ein träges kleines Flüßchen, das dem Jungen stets einen Heidenrespekt einflößt, wann immer er in seine Nähe kommt. Nicht nur wegen des kleinen Stauwehres an einer ehemaligen Mühle, wo Treibholz und Abfall auf den schmutzig braunen Schaumkronen des aufgewühlten Wassers tanzen. Sondern auch, weil nach Ansicht der Oma im Fluß die Wasserhexe wohnt, die unvorsichtige Kinder zwischen die dicken, dunkelgrünen Arme der träge schlängelnden Algen zieht. Bald wird die Angst des Jungen noch schlimmer werden, als er hört, wie sich die Erwachsenen darüber unterhalten, daß „Trude“, eine etwas verrückte, aber harmlose Nachbarin, „ins Wasser gegangen“ sei. Die Vorstellungen, die diese Worte bei dem Jungen auslösen, werden ihm in den folgenden Nächten einige heftige Alpträume bereiten.

Hinter dem Haus gibt es einen großen Garten. Hier steht ein Sauerkirschbaum, dessen herbe Früchte zwar nur bedingt zum Direktverzehr geeignet sind, aus denen die Oma aber einen Kuchen zu zaubern vermag, der seinesgleichen sucht und der zu den absoluten Backwerk-Favoriten des Jungen zählt. Die schönste Jahreszeit in diesem Garten ist der Herbst. Dann reifen Äpfel und Weintrauben, und das trockene Erbsstroh wird verbrannt, in dessen heißer Asche man hervorragend Kartoffeln backen kann. Aus jeder Pore nach Rauch stinkend wird der Junge danach am Waschbecken der kleinen Küche stehen und sich mit eiskaltem Wasser den Ruß von den Händen schrubben. Währenddessen bäckt die Oma auf der heißen Herdplatte des Küchenofens hauchdünne, rohe Kartoffelscheiben zu „Schiwwerchen“, knusprig-salzigen Kartoffelchips.

Überhaupt sind 1976 die sanitären Anlagen im Haus der Oma noch recht rudimentär. Dusche oder Badewanne mit fließend Wasser gibt es nicht, für kleine und große „Geschäfte“ steht im Hof ein solide gemauertes Plumsklo bereit. Hier hat allerdings schon der Fortschritt Einzug gehalten. Statt des ortsüblichen Brettes mit Loch gibt es eine weiße Kloschüssel mit schwarzer Bakelit-Klobrille, aber ohne Spülung. Im Winter macht der eiskalte Kunststoff jeden Toilettengang zu einer Prüfung der Selbstüberwindung. Zu anderen Zeiten allerdings sitzt der Junge oft ausdauernd auf der Toilette und studiert die Witzeseite der "Bauern-Zeitung", etwas, was sich zu einem echten Hobby auswachsen wird, sobald der Junge lesen gelernt hat.

Doch nicht nur Garten, Scheune und Hühnerhof samt Hund Foxel, einer wuschligen, herzensguten Promenadenmischung, bieten für einen Vierjährigen genügend Möglichkeiten zur Zerstreuung, obwohl der Junge ein eher ruhiges, zuweilen eigenbrötlerisches Kind ist, das sich oft einfach nur mit einem Buch in einen stillen Winkel zurückzieht. Abgesehen davon aber verfügt das verwinkelte alte Fachwerkhaus der Oma über genügend Schlupfwinkel und Räume, um jede Langeweile zu vertreiben.
Das Haus beherbergt unter anderem:

- eine Küche, in der die Oma in der Vorweihnachtszeit bei Schummerlicht die leckersten Lebkuchen und echte Thüringer „Schittchen“, also Weihnachtsstollen, backt, wiewohl der Junge damals noch keine Rosinen mag. Einer der Stollen findet jedes Jahr seinen Weg zur Tante Frieda in Neuwied im "Westen", einer freundlichen älteren Dame und Schwester der Oma, die dem Jungen bei ihren seltenen Besuchen mit ihrem rheinländischen Singsang immer übertrieben vornehm erscheint, ein bißchen wie Fräulein Rottenmeier aus den Heidi-Filmen, nur freundlicher.

- ein Wohnzimmer, in dem der Junge entweder mit seiner Oma ein „Quarksack“ genanntes und vermutlich frei erfundenes Kartenspiel spielt oder sein ebenfalls im Hause lebender, damals noch im Teenager-Alter befindlicher Onkel G. seine kleine Modelleisenbahn aufbaut. Der schlaksige, blonde Junge läßtß sich nur selten dazu überreden, meistens ist ohnehin der altersschwache Trafo defekt. G., den alle im Dorf nur „Hoppel“ nennen und der mit seiner Brille irgendwie an den jungen John Lennon erinnert, sitzt sonst meistens in seinem kleinen Zimmer und hört Smokie, Uriah Heep und Udo Lindenberg. Über seinem Bett hängt ein braunes Poster, das irgendeine langhaarige Rockband darstellt, mit der der Junge (noch) nichts anfangen kann. Die drei anderen wesentlichen Erinnerungen an G. aus dieser Zeit beinhalten „Muskelschläge“ genannte Quälereien, gefrorene Milch aus dem HO, die solange mit Vanillezucker angereichert wurde, bis dieser zur Neige ging und die Oma zu schimpfen begann, und ein denkwürdiger Auftritt als Kirmesbursche, bei dem G. sich volltrunken krakeelend im Hausflur wälzte und die Oma sich zur einem der seltenen Schimpfworte hinreißen ließ („Schwein!“).

- einer Speisekammer, in der alles Mögliche bevorratet wird, z.B. lagert dort alljährlich der Schittchenteig, der vor dem Backen drei Tage ruhen muß,

- einem dunklen Winkel unter der Treppe, wo Schuhe und Putzmittel stehen und vor dem der Junge eine Heidenangst hat,

- einem niedrigen, finsteren Keller, der im wesentlichen Kohlen, Kartoffeln, Einmachgläser und dicke Spinnen beinhaltet und auf dessen schmaler Treppe immer ein Tontopf mit selbst eingelegten Gewürzgurken steht.

Die obere Etage beinhaltet des Refugium des Onkels sowie das gemeinsame Schlafzimmer der Oma und des Jungen. Im Winter kuschelt sich der Junge an die etwas antiquiert wirkende, glühend heiße Aluminium-Wärmflasche und wirft unter dem riesigen Federbett hervor fröstelnde Blicke an die eisglitzernden Wände.

Und dann ist da noch der staubige Dachboden, ein Raum, den der Junge nur selten betreten darf. Hier lagern in Kartons und alten Pappkoffern die wunderbarsten Schätze: alte Schallplatten und Bücher, Stoffreste, aus denen die Oma die praktischsten Sachen nähen kann, und die bereits erwähnte Modelleisenbahn.

In den folgenden Jahren wird der Junge den Kindergarten hinter sich lassen und zur Schule gehen, zunächst im Nachbarort, später im Heimatdorf. Stets ist die Oma an seiner Seite, wird ihn bekochen, ihn bemuttern und mit ihm Hausaufgaben machen. Sie wird dabei sein, wenn er - durch Zufall - sein erstes Wort schreibt („Hahn“) und wenn er im örtlichen Waldbad, wo sie im feuchtkühlen Kassenhäuschen sitzt und Eintrittskarten und Hansa-Kekse verkauft, seine erste Schwimmstufe ablegt. Sie wird sich später über seine der Mode entsprechenden zerrissenen Jeans aufregen und sie zu seinem nicht geringen Entsetzen flicken. Sie wird skeptische Kommentare über seine erste Freundin abgeben, ebenso über die zweite und die dritte.

Der Junge wird sich in dieser Zeit zum Klassenprimus und Mädchenschwarm mausern. Die einsetzende Pubertät wird ihm seine verhaßten blonden Locken rauben und durch dunkles, glattes Haar (gut) und Pickel (nicht so gut) ersetzen. Er wird sich Ohrlöcher stechen lassen und seinen Ekel vor Zwiebeln und Speck nachhaltig überwinden. Er wird immer noch täglich bei seiner Oma Mittag essen und deren deftige Hausmannskost mehr und mehr zu schätzen lernen, froh, nicht an der äußerst gewöhnungsbedürftigen Schulspeisung teilnehmen zu müssen. Er wird immer seltener und später gar nicht mehr bei der Oma übernachten, denn die Eltern haben gebaut, und er hat nun sein eigenes Zimmer, dessen Wände bald Depeche Mode- und Samantha Fox-Poster zieren werden.

Von all dem ahnen aber weder der Junge, noch die Oma etwas, als sie im Jahr 1976 Brötchen kauend die Straße entlang gehen, jeder glücklich in der Gegenwart des anderen.


Der Junge bin ich. Die Frau ist heute Morgen gestorben.

1 Kommentar:

Ede hat gesagt…

....ich wünschte, ich hätte damals als meine Oma gestorben ist, so etwas aufschreiben können...ich bin in Gedanken bei dir, mein Alter!